Das Bundessozialgericht hat kürzlich in drei Revisionsverfahren (Aktenzeichen B 12 BA 1/23 R, B 12 R 15/21 R und B 12 BA 4/22 R) entschieden, dass eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nicht ausgeschlossen ist, wenn sich die Tätigkeit einer natürlichen Person nach deren tatsächlichem Gesamtbild als abhängige Beschäftigung darstellt, selbst wenn Verträge nur zwischen dem Auftraggeber und einer Kapitalgesellschaft bestehen, deren alleiniger Geschäftsführer und Gesellschafter die natürliche Person ist.
Die betroffenen natürlichen Personen waren alleinige Gesellschafter und Geschäftsführer von Kapitalgesellschaften (Unternehmergesellschaft <UG> und Gesellschaft mit beschränkter Haftung <GmbH>). Mit diesen Kapitalgesellschaften schlossen Dritte Verträge über die Erbringung von Dienstleistungen. In zwei Verfahren ging es um Pflegedienstleistungen im stationären Bereich eines Krankenhauses, im dritten Fall um eine beratende Tätigkeit. Tatsächlich erbracht wurden die Tätigkeiten ausschließlich von den natürlichen Personen. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund stellte in allen Fällen Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung fest.
Sozialversicherungspflicht und Scheinselbstständigkeit
Um die Bedeutung dieser Entscheidung vollständig zu verstehen, ist es wichtig, die Konzepte der Sozialversicherungspflicht und der Scheinselbstständigkeit zu erläutern.
Die Sozialversicherungspflicht bezieht sich auf die gesetzliche Verpflichtung, Beiträge zur Sozialversicherung zu leisten. Diese Pflicht besteht in der Regel für abhängig Beschäftigte, während Selbstständige oft von dieser Pflicht befreit sind. Die Sozialversicherung umfasst mehrere Aspekte, darunter die Renten-, Kranken-, Pflege-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung. Sie bietet den Versicherten Schutz in verschiedenen Lebenssituationen, wie Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit oder bei einem Arbeitsunfall.
Allerdings kann es Fälle geben, in denen eine Person als Selbstständige eingestuft wird, obwohl sie tatsächlich in einer abhängigen Beschäftigung tätig ist. Dies wird als Scheinselbstständigkeit bezeichnet. Scheinselbstständigkeit ist ein Zustand, in dem eine Person formal als Selbstständige arbeitet, aber tatsächlich die Merkmale einer abhängigen Beschäftigung aufweist. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn die Person nur für einen Auftraggeber arbeitet, Weisungen von diesem erhält und in dessen Betriebsorganisation eingebunden ist.
Dies kann zu Problemen führen, da für Scheinselbstständige als abhängig Beschäftigte eigentlich Sozialversicherungspflicht besteht. Wenn jemand scheinselbstständig tätig ist, werden jedoch keine Sozialversicherungsbeiträge geleistet. Dies kann sowohl für die betroffene Person als auch für den Auftraggeber rechtliche Konsequenzen haben. Für die betroffene Person kann dies bedeuten, dass sie im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder im Alter nicht ausreichend abgesichert ist. Der Auftraggeber hingegen kann nachträglich zur Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen verpflichtet werden.
Bedeutung der Entscheidung des Bundessozialgerichts
Die Entscheidung des Bundessozialgerichts hat weitreichende Auswirkungen auf die Praxis der Sozialversicherungspflicht. Sie stellt klar, dass die tatsächlichen Umstände der Tätigkeit und nicht die formale Vertragsbeziehung entscheidend sind, um das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung und damit einer Sozialversicherungspflicht zu bestimmen.
Dies bedeutet, dass Ein-Personen-Kapitalgesellschaften, deren Geschäftsführer und Gesellschafter die tatsächlichen Dienstleistungen erbringen, nicht automatisch von der Sozialversicherungspflicht ausgenommen sind. Vielmehr müssen die tatsächlichen Umstände der Tätigkeit berücksichtigt werden.
Diese Entscheidung könnte insbesondere massive Auswirkungen auf die IT- und Marketingbranche haben, aber auch auf Influencer und andere Berufsgruppen, die ähnliche Geschäftsmodelle nutzen. In diesen Branchen ist es durchaus üblich, sich als Berater, Influencer oder kleine Marketingagentur hinter einer UG zu “verstecken”, um nicht selbst sozialversicherungspflichtig zu sein. Oft wurde in der Vergangenheit von Rechtsanwälten sogar dazu geraten, auf diese Weise zu verfahren.
Doch mit dieser Entscheidung des Bundessozialgerichts scheint diese Praxis nun vorbei zu sein. Es wird nun notwendig sein, die tatsächliche Tätigkeit und alle Verträge genau zu betrachten und gegebenenfalls anzupassen. Es ist ein klares Signal, dass die tatsächliche Natur der Arbeit und nicht die formale Vertragsstruktur im Mittelpunkt der Beurteilung der Sozialversicherungspflicht steht. Dies könnte bedeuten, dass viele, die bisher als selbstständig galten, nun als abhängig Beschäftigte eingestuft werden und somit sozialversicherungspflichtig sind. Dies wird zweifellos zu einer Neubewertung der Geschäftsmodelle in diesen Branchen führen.