Kurzüberblick: Das Abrufübertragungsrecht wird seit Jahren als Begriff verwendet, um die On-Demand-Übertragung von Werken im Internet zu beschreiben. Dogmatisch ist es im deutschen Recht nicht als eigenes Verwertungsrecht kodifiziert. Die Praxis ordnet On-Demand-Streaming überwiegend dem Recht der öffentlichen Zugänglichmachung zu (§ 19a UrhG, Umsetzung von Art. 3 Abs. 1 InfoSoc-RL). Daneben greifen Vervielfältigungsrechte (Buffering, Caching) sowie Leistungsschutzrechte. Für Anbieter heißt das: Lizenzpakete für Streaming müssen mehrschichtig gedacht werden – je nach Werkart, Rechtekette, Live- oder On-Demand-Modell, Territorien und technischen Modalitäten.
Dogmatik: „Abrufübertragung“ versus öffentliche Zugänglichmachung (§ 19a UrhG)
Begriffsbild. „Abrufübertragung“ meint die nutzerindividuelle Übermittlung eines Werkes auf Anforderung („on demand“) vom Server zum Endgerät. Der Terminus stammt aus der Literatur zur Konvergenz von Senden (§ 20 UrhG) und öffentlicher Zugänglichmachung (§ 19a UrhG). Gemeint ist die Übertragung jenseits der bloßen Bereitstellung auf einem Server.
Kodifikation und herrschende Sicht. Das Urheberrechtsgesetz kennt kein eigenständiges „Abrufübertragungsrecht“. Der Regelungsanker für Streaming-On-Demand ist § 19a UrhG: öffentliche Zugänglichmachung liegt vor, wenn das Werk Mitgliedern der Öffentlichkeit von Orten und zu Zeiten ihrer Wahl zugänglich gemacht wird. Die EuGH-Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 InfoSoc-RL abstrahiert dabei den Vorgang der „öffentlichen Wiedergabe“ in einem technologieneutralen Sinn. Aus praktischer Sicht zählt daher nicht nur das „Auf den Server stellen“, sondern die damit eröffnete Möglichkeit individuellen Abrufs.
Gegenauffassung in der Literatur. Diskutiert wird, ob die Datenübertragung selbst (der „letzte Schritt“ vom Server zum Nutzer) ein eigenständiges Verwertungsrecht darstellt – mit Argumenten zur Lizenzdurchsetzung (Kontrolle der Auslieferung, Territorialfragen, Sanktionslogik). Die überwiegende Meinung ordnet Bereitstellen und Abruf jedoch einheitlich § 19a UrhG zu; ein gesondertes „Abrufübertragungsrecht“ wird nicht benötigt. Entscheidend bleibt: On-Demand-Bereitstellung löst § 19a aus; Live-Übertragung ordnet sich regelmäßig § 20 UrhG (Senderecht) zu.
Abgrenzung zu § 20 UrhG (Senden).
- Senderecht (§ 20 UrhG): zeitgleiche lineare Übertragung an viele (Rundfunk, Webcast/Livestream ohne individuelle Wahl des Abspielzeitpunkts).
- § 19a UrhG: individuelle Abrufbarkeit zu beliebiger Zeit (Mediathek, Video-/Audio-on-Demand, Social-Media-Library).
Hybridformen (Simulcast + Mediathek) sind rechtsgemischt zu lizenzieren.
Welche Rechte Streaming tatsächlich nutzt: Urheber- und Leistungsschutzrechte im Paket
Urheberrechtliche Ebene.
- Öffentliche Zugänglichmachung (§ 19a UrhG) – Kernrecht bei On-Demand-Nutzungen.
- Vervielfältigung (§ 16 UrhG) – Serverkopien, CDN-Kopien, Transcodings, Thumbnails, Buffering.
- Vorübergehende Vervielfältigung (§ 44a UrhG) – technische, flüchtige Kopien ohne eigenständige wirtschaftliche Bedeutung; greift nur im Rahmen rechtmäßiger Nutzung.
- Bearbeitung/Umgestaltung (§ 23 UrhG) – Re-Edits, Mashups, Clips.
- Schranken (z. B. Zitat § 51, Parodie/Pastiche § 51a UrhG) – in der Praxis relevant für UGC-Plattformen.
Leistungsschutzrechte (Auswahl).
- §§ 73 ff., 77 UrhG (ausübende Künstler: Aufnahme, On-Demand-Nutzungen).
- § 85 UrhG (Tonträgerhersteller: Vervielfältigung, öffentliche Zugänglichmachung).
- § 94, § 94a UrhG (Filmhersteller-/Presseverlegerrechte).
- § 87 UrhG (Sendeunternehmen).
Collecting-Societies-Praxis.
- Musikalische Werke (kleine Rechte): regelmäßig GEMA (Öffentliches Zugänglichmachen/Streaming, je nach Konstellation on-top individuellen Rechteklärungsbedarf).
- Leistungsschutz (Tonaufnahmen): GVL / Label-Lizenzen.
- Filmwerke: i. d. R. direkte Lizenz mit Rechteinhabern/Produzenten; Musikanteile zusätzlich.
- Live vs. On-Demand: Live-Stream häufig Senderecht + GEMA; dauerhafte Bereitstellung als § 19a erfordert zusätzliche Rechte.
Technische Kopien und Endnutzer: § 44a, § 53 UrhG und die Unterscheidung rechtmäßiger/ rechtswidriger Quellen
Temporäre Kopien (§ 44a UrhG). Streaming erzeugt flüchtige Kopien auf Servern, in Transcoding-Pipelines, CDNs und auf Endgeräten (RAM, Puffer). § 44a privilegiert diese nur, wenn die Kopien vorübergehend, flüchtig oder begleitend, integraler Bestandteil eines technischen Verfahrens sind und keine eigenständige wirtschaftliche Bedeutung haben und der Nutzungsvorgang rechtmäßig ist.
Private Kopie (§ 53 UrhG). Für Endnutzer ist die Privatkopie aus einer offensichtlich rechtswidrigen Vorlage nicht zulässig. Auf EU-Ebene hat die Rechtsprechung klargestellt, dass Streaming aus offensichtlich rechtswidrigen Quellen weder von Art. 5 Abs. 1 InfoSoc (vorübergehende technische Kopien) noch von nationalen Privatkopie-Regeln gedeckt ist. Für Plattformen folgt daraus: Sorgfaltspflichten zur Unterbindung rechtswidriger Quellenzugriffe (DSA-Prozesse, Hash-/URL-Blacklists, „trusted notifier“-Mechanismen).
Praxisfolgen. Anbieter rechtmäßiger Streamingdienste dürfen § 44a einpreisen und müssen nicht jede technische Kopie lizenzieren. Wer dagegen auf rechtswidrige Quellen setzt, kann sich auf § 44a nicht berufen; Endnutzer riskieren Rechtsverletzungen und Abmahnungen. Rechteinhaber können gegen Vermittler (Hardware-/Software-Seller, Add-on-Plattformen) vorgehen, wenn diese gezielt den Zugang zu illegalen Streams fördern.
Live-Streaming, Webcasting, Simulcast: Schnittstellen zwischen § 20 und § 19a UrhG
Live-Übertragungen. Klassisches Livestreaming ohne nachträgliche Abruffunktion ist Senderecht (§ 20 UrhG). Sobald ein Livestream zeitgleich online geht und parallel in einer Mediathek abrufbar bleibt, werden beide Rechte genutzt: Senden für die Live-Phase, § 19a für die On-Demand-Phase.
Webradio/Internetradio. Linearer Stream = § 20; Sendearchitektur und Einbindung von Werken (Musik) erfordern Sende- und Leistungsschutzrechte; Playlist-Archiv oder „Track-Replay“ tritt in den Bereich § 19a.
Simulcast/Gap-Fill. TV-Signal oder Event-Stream wird zeitgleich via Internet verbreitet (Simulcast) und anschließend als Catch-Up bereitgestellt. Verträge: Dual-Lizenzierung (Senderecht + öffentliche Zugänglichmachung), klare Zeitfenster, Geo-Blocking, DRM.
Kurzfazit: Live- und On-Demand-Modelle sind lizenzrechtlich getrennt zu strukturieren, selbst wenn sie technisch in einer Plattform verschmelzen.
Territorien, Rechteketten und Plattformverträge: Von der Rechteklärung zur technischen Umsetzung
Territorialprinzip online. Für reine On-Demand-Dienste gilt kein generelles Herkunftslandprinzip; Lizenzierung erfolgt territorial. Abweichungen gibt es nur in Sonderregimen (z. B. Richtlinie (EU) 2019/789 für Online-Dienste von Sendeunternehmen, „ancillary online services“). Internationale Streaming-Projekte müssen früh Rechteportfolios (Werke, Leistungen) und Gebietsrechte abgleichen; Geo-Blocking und Rights-Enforcement (IP-Range-Steuerung, Payment-Gateways, App-Store-Gebiete) technisch enforcebar ausgestalten.
Rechteketten. Verträge mit Urhebern, ausübenden Künstlern, Produzenten und Labels müssen eindeutig definieren: Nutzungsart (On-Demand-Streaming, Download, Clipnutzung, Trailer), Endgeräte, Interaktivität, Territorien, Laufzeit, Zeitfenster, Exklusivität, Rev-Share. Wichtig: Zweckübertragungslehre (§ 31 Abs. 5 UrhG) – unklare Klauseln werden eng ausgelegt. Bei KI-gestützten Bearbeitungen Remix-/Edit-Klauseln und Moral Rights beachten.
Plattformverträge (UGC & Pro-Publisher).
- UGC-Plattform: AGB-Zusage der Rechteinhaberschaft, Freistellungen, Notice-and-Action-Prozesse (DSA), UrhDaG-Mechanik (mutmaßlich erlaubt, § 9–§ 12), Vergütungen, Werbemonetarisierung, Sperr-/Entfernungsgründe, Resistenz gegen Overblocking.
- Pro-Publisher: Garantien zu Clearance, DRM, CMTA (Content ID/Matching), Reportings, Netting/Chargebacks, Audit-Rechte.
Technische Durchsetzung. DRM, Token-Gates, Forensic Watermarking und Fingerprinting sind kein Ersatz für Rechte, aber Compliance-Werkzeuge (Beweis, Abuse-Mitigation). Logs und Provenance-Daten sichern die Beweisführung.
Streaming-Produktdesign: Recht ab der ersten Architekturentscheidung mitdenken
Content-Pipeline. Schon in der MVP-Phase sind Nutzungsarten („nur Live“, „Live + Catch-Up“, „reiner VoD-Katalog“), Territorien, Verfügbarkeitsfenster und In-App-Features (Clipping, Download-to-Go, Offline-Cache) festzulegen – mit direktem Einfluss auf Lizenzbedarf. Download-to-Go verlässt regelmäßig § 44a und benötigt Vervielfältigungsrechte für dauerhafte Kopien.
User-Funktionen. Clips, GIF-Export, Audiogramme, Snippets oder Screen-Record sprengen schnell die vertraglich erlaubte Nutzung. Default sollte „Narrow Rights“ sein: Clip-Funktionen nur für eigene Inhalte, Re-Uploads mit automatischer Rechteprüfung, Opt-Ins für Rechteinhaber.
KI-Features. Automatische Transkription, Kapitelung, Übersetzung oder Dub erzeugen Bearbeitungen (§ 23 UrhG) und nutzen Leistungsschutzrechte. Training/Finetuning auf Nutzermaterial erfordert separate Erlaubnisse (keine stillschweigende Train-Erlaubnis). Ausschlüsse (No-Training-Flags) und Zweckbindungen vertraglich festhalten.
Compliance-Checkliste 2025: Streaming-Rechte sauber absichern
- Werks-/Leistungsinventar: Musik, Bild, Film, Text, Logos, Performances, Archiv-Footage.
- Nutzungsarten: Live (§ 20), On-Demand (§ 19a), Download (§ 16), Clips/Re-Edits (§ 23).
- Territorien & Fenster: Geo-Blocking, Zeitfenster, Exklusivität.
- Collecting-Societies: GEMA (kleine Rechte), GVL/Label, weitere Verwertungsgesellschaften; Einzelfreigaben für große Rechte / Film.
- Technikkopien: § 44a-Eignung dokumentieren; Off-Device-Caches gesondert lizenzieren.
- UGC-Governance: UrhDaG-Workflows (mutmaßlich erlaubt, Bagatellgrenzen), Beschwerden (§ 14 UrhDaG), DSA-Notice-and-Action.
- Vertragliche Sicherungen: Rechteketten-Garantien, Freistellungen, Audit-/Reporting-Klauseln, DRM/Watermarking-Pflichten, Take-down-SLA.
- Beweis/Protokollierung: Upload-/Streaming-Logs, Fingerprints, Zeitstempel, Legal Hold bei Streit.
- KI-Nutzung: keine konkludente Trainingserlaubnis; Daten- und Modell-Governance vertraglich abbilden.
- Privacy by Design: Telemetrie minimieren; Rechtsgrundlagen (DSGVO), Art. 25 integrativ umsetzen.
Streitlagen und Rechtsprechungslinien: was bei der Beratung zu beachten ist
Hyperlinks/Embeds. Die Linie der Unionsrechtsprechung zur „öffentlichen Wiedergabe“ unterscheidet neues Publikum/ technische Modalität:
- Hyperlinks auf frei zugängliche, rechtmäßig veröffentlichte Inhalte sind grundsätzlich zulässig; anders bei offensichtlich rechtswidrigen Quellen oder Umgehung von Zugangsschranken.
- Embedding/Framing kann je nach Umgehungsgrad eine neue öffentliche Wiedergabe darstellen.
- Streaming-Boxen/Add-ons, die systematisch zu illegalen Quellen führen, begründen Kommunikation an die Öffentlichkeit der Anbieter; Endnutzer verlassen die Schutzbereiche der vorübergehenden Kopien.
Plattformhaftung. Für reine Hosting-/Sharing-Plattformen gelten in Deutschland UrhDaG-Spezialregeln (Filtern, mutmaßlich erlaubt, Beschwerde). Online-Marktplätze ohne Content-Sharing-Schwerpunkt sind urheberrechtlich anders zu prüfen; Haftung hängt von Zurechnung und Sorgfalt ab. DSA ergänzt das Haftungsbild prozedural (Meldewege, Transparenz, Audits).
Praxis-Konflikte.
- Musik in Games-Streams: Rechtebündel aus Werk- und Leistungsschutzrechten; In-Game-Musik ist nicht automatisch „frei“.
- Fan-Edits/AMVs: Typischerweise § 23-relevant; Schranken § 51/§ 51a greifen eng.
- Archiv-Footage: oft kettenbrüchig; Lizenzierung zeit-/gebietsspezifisch, häufig Restrechte bei Dritten.
Ergebnis: „Abrufübertragungsrecht“ als Arbeitstitel – maßgeblich bleibt § 19a UrhG plus flankierende Rechte
Für die juristische Beratung ist der Begriff „Abrufübertragungsrecht“ hilfreich, um On-Demand-Übertragungen präzise zu adressieren. Rechtlich trägt den Use-Case aber § 19a UrhG in Verbindung mit § 16, § 44a und den Leistungsschutzrechten. Die wesentlichen Beratungshebel liegen in (1) klarer Lizenzarchitektur, (2) technischer Durchsetzung (DRM, Fingerprinting, Geo-Blocking), (3) DSA/UrhDaG-Prozessen gegen Over- und Underblocking sowie (4) sauberer Vertragsgestaltung für KI-Funktionen, Clips und internationale Gebietsportfolios.