Bürokratie-Frust: Ein Praxisbeispiel aus Deutschland
Stellen Sie sich vor, Sie schließen eine Series-A-Finanzierungsrunde für Ihr Startup in Deutschland ab – und allein die Notarkosten dafür betragen fast 59.000 €. Kein Scherz: In einem konkreten Fall summierten sich die Gebühren des Notars für die Beurkundung aller Unterlagen auf 58.984 €. Und wofür? Der Notar liest stundenlang (hier etwa fünf Stunden) sämtliche Vertragsdokumente den anwesenden Gesellschaftern vor und schickt anschließend die Unterlagen zum Handelsregister. Bis der Eintrag im Handelsregister erfolgt ist – meist weitere 2–3 Wochen später – darf der Gründer das Investorengeld nicht einmal annehmen. Zeit ist Geld: Solange der bürokratische Prozess läuft, steht die Finanzierung in der Warteschleife.
Zum Vergleich: In den USA oder in Großbritannien würde dieselbe Kapitalrunde mit ein paar digitalen Signaturen erledigt – ein PDF in DocuSign, ein paar Klicks, und in Minuten ist alles unter Dach und Fach. Der Unterschied könnte kaum größer sein. Hier geht es nicht um kleinliche Sparsamkeit, sondern um Wettbewerbsfähigkeit. An veralteten Verfahren aus den 1920er-Jahren festzuhalten (in Deutschland stammt das notarielle Beurkundungserfordernis im Wesentlichen von 1925!) ist kein Rezept, um im Jahr 2025 global mitzuhalten. Dieses Beispiel ist symptomatisch für ein größeres Problem: Europas Startup-Ökosystem wird durch Bürokratie und Kleinstaaterei ausgebremst.
Altmodische Prozesse vs. globales Tempo
Der Fall oben mag extrem klingen, doch viele Gründer können ähnliche Geschichten erzählen. Europa verfügt zwar über einen riesigen Binnenmarkt, doch jedes Land kocht sein eigenes rechtliches Süppchen. Firmengründungen, Kapitalerhöhungen, Mitarbeiterbeteiligungen – all das läuft in 27 verschiedenen Rechtsordnungen mit unterschiedlichen Formularen, Sprachen und Vorschriften ab. Diese Zersplitterung hat konkrete Folgen: Weniger als 18 % aller Frühphasen-Investments in Europa fließen länderübergreifend, Investoren bleiben meist in ihrem Heimatmarkt. Anders gesagt: Wer nicht zufällig lokale Angel-Investoren vor Ort hat, tut sich extrem schwer, Geld einzusammeln.
Aus Investorensicht ist das nachvollziehbar. Kaum ein Venture Capital-Geber hat Lust, sich in die Besonderheiten einer ausländischen Rechtsform einzuarbeiten oder lokale Anwälte für jedes Land zu engagieren. Ein Business Angel aus London wird nur ungern in eine litauische UAB oder eine deutsche GmbH investieren, wenn er befürchten muss, in ein paar Jahren über unbekannte juristische Fallstricke zu stolpern. Für größere Summen mag man diese Hürden manchmal nehmen – doch gerade bei kleineren Tickets in der Frühphase schrecken viele zurück. Oft drängen internationale Investoren europäische Gründer sogar, gleich in den USA (Delaware Inc.) neu zu gründen, weil spätere Finanzierungsrunden andernfalls komplizierter würden. Das Resultat: Talentierte europäische Teams wandern ins Ausland oder verlieren wertvolle Zeit. Im globalen Wettbewerb kann so ein permanenter 1%-Nachteil pro Tag sich exponentiell vergrößern und den Rückstand Europas drastisch vergrößern. Geschwindigkeit ist eben Trumpf: Was in den USA selbstverständlich ist – Gründung in Stunden, Standardverträge, Blitz-Finanzierungen – gerät in Europa schnell zum wochenlangen Bürokratie-Marathon.
Kurz gesagt, Europas Startups kämpfen nicht nur gegen Konkurrenten, sondern auch gegen veraltete Prozesse im eigenen Haus. Es fehlt ein einheitlicher Standard, der Gründern das Leben erleichtert. Doch genau hier setzt die Idee von EU Inc an.
Was ist EU Inc?
EU Inc (für European Incorporated) ist der Arbeitstitel für eine geplante paneuropäische Rechtsform speziell für Startups – oft als „28. Regime“ bezeichnet (als Ergänzung zu den 27 nationalen Rechtsordnungen). Dahinter steckt die Vision, eine einzige, digitale und europaweit einheitliche Unternehmensform zu schaffen, die Gründer freiwillig wählen können, um ihr Unternehmen EU-weit mit einem Satz Regeln zu betreiben. Man kann es sich als europäische Einheits-GmbH vorstellen, die parallel zu GmbH, SARL, SRL & Co. existiert, aber überall in Europa gleichermaßen anerkannt ist.
Initiiert wurde EU Inc Ende 2024 von einer Koalition prominenter Gründer, Investoren und Verbände, darunter Andreas Klinger und Philipp Herkelmann. Über 16.000 Unterstützer – vom Y Combinator-Gründer Paul Graham bis zu europäischen Unicorn-Foundern – haben einen offenen Brief und eine Petition für diese Idee unterzeichnet. Sogar hochrangige Politiker wie der ehemalige italienische Premier Enrico Letta oder Italiens Ex-Zentralbankchef Mario Draghi signalisierten Unterstützung für eine solche pan-europäische Gesellschaftsform. Und im Januar 2025 sprach EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Davos vom „28. Regime“: innovative Firmen sollen künftig in der gesamten EU nach einem Regelwerk operieren können, um nationale Hürden abzubauen. Das wäre ein Paradigmenwechsel – weg von 27 Insellösungen, hin zu einem gemeinsamen Standard.
Aber wie genau soll EU Inc funktionieren? Die Grundprinzipien des Konzepts sehen etwa so aus:
- Einheitliche Rechtsform nach EU-Recht: Ein EU-weit gültiges Unternehmen, das grenzüberschreitend agieren kann, ohne in jedem Land eine eigene Tochterfirma gründen zu müssen.
- Zentrales, digitales Register: Gründung und Verwaltung erfolgen online über ein zentrales EU-Register (idealerweise auf Englisch), was den Bürokratieprozess dramatisch beschleunigt.
- Standardisierte Investitions-Dokumente: Vereinheitlichte Verträge (z.B. Term Sheets, Beteiligungsverträge, SAFE-Notes etc.), die überall anerkannt sind, sodass Investoren nicht jedes Mal neue lokale Vertragswerke prüfen müssen.
- EU-weites Mitarbeiterbeteiligungs-Programm: Ein standardisiertes Stock-Option-Framework für ganz Europa, das es ermöglicht, Mitarbeitern in verschiedenen Ländern vergleichbare Anteile anzubieten, ohne in jedem Staat eigene Pläne aufzusetzen.
Im Grunde genommen zielt EU Inc darauf ab, für Europa das zu schaffen, was Delaware und Co. für die USA sind: eine Mustergesellschaft mit digitaler Gründung und skalierbaren Standards. Andreas Klinger beschreibt das Bild treffend als „Delaware Inc trifft Stripe Atlas trifft Y Combinator SAFE“ – also eine blitzschnell online gegründete Firma inklusive fertiger Standard-Dokumente und Mitarbeiterbeteiligungen, wie es die US-Startup-Welt vormacht. Wichtig ist: EU Inc soll optional sein, niemand wird gezwungen, diese Form zu nutzen. Doch für wachstumsorientierte Gründer wäre es ein mächtiges Werkzeug, um vom ersten Tag an europaweit zu skalieren.
Warum wäre das ein Game-Changer?
Eine solche einheitliche 28. Rechtsform könnte Europas Startup-Landschaft erheblich beleben. Aktuell kostet die Fragmentierung viel Zeit und Geld: Wer heute in Europa expandieren will, muss oft in mehreren Ländern separate Tochtergesellschaften gründen – jedes Mal mit neuem Notar, neuen Anwälten, neuen Steuernummern. EU Inc würde dieses Puzzle überflüssig machen. Ein Startup könnte einmal gründen und damit überall in der EU geschäftsfähig sein. Finanzierungsrunden ließen sich unkomplizierter mit internationalen Investoren abwickeln, weil alle die gleichen Dokumente und Regeln nutzen. Das spart nicht nur Kosten, sondern vor allem Zeit, die im Wettbewerb entscheidend ist.
Für Mitarbeiter würde ein EU-weiter Standard bedeuten, dass ein französischer Entwickler und eine polnische Marketing-Managerin gleiche Beteiligungsprogramme erhalten können, anstatt an den Tücken verschiedener Steuergesetze zu scheitern. Talent würde dort einsetzbar sein, wo es gebraucht wird, ohne durch lokale Bürokratie abgeschreckt zu werden. Kurz: Die EU könnte endlich ihren Binnenmarkt-Vorteil ausspielen, anstatt in 27 Stücke zerfallen zu bleiben. Ursula von der Leyen betonte, ein solcher Schritt würde „die häufigsten Wachstumsbarrieren beseitigen“ und Europas Stärke – den kontinentalen Maßstab – voll zur Geltung bringen.
Auch die Startup-Community sieht in EU Inc einen längst fälligen Wettbewerbsschub. „Im Startup-Bereich ist Momentum alles – alles, was dich bremst, kann dich umbringen. EU Inc bedeutet, diese künstlichen Bremsklötze zu entfernen, damit unsere Startups richtig durchstarten können“, erklärte Andreas Klinger plastisch. In der Tat: Trotz Weltklasse-Talenten und innovativer Ideen ist es immer noch absurd schwer, in Europa ein globales Unternehmen aufzubauen. Eine schlanke, digitale EU-Einheitsgesellschaft würde viele der künstlichen Hürden abbauen, die Gründer derzeit ausbremsen. Wenn Europa im Wettbewerb mit den USA oder China mithalten will, muss es Gründern das Leben leichter machen – und EU Inc verspricht genau das.
Halbherzige Pläne in Brüssel?
Bei so vielen offensichtlichen Vorteilen könnte man meinen, Brüssel stünde geschlossen hinter der Idee. Tatsächlich hat die Politik reagiert – aber bislang nicht mutig genug, sagen Kritiker. Im Juli 2025 legte der Europaabgeordnete René Repasi einen Entwurf eines Berichts zum 28. Regime vor, der Empfehlungen an die EU-Kommission enthält. Doch dieser Entwurf enttäuscht viele in der Startup-Szene: „Das ist nicht die kühne Reform, für die wir gekämpft haben, sondern eine verpasste Chance“, erklärten Dutzende europäische Startup-Verbände in einem gemeinsamen Aufruf. Worin liegt das Problem? Vor allem darin, wie EU Inc umgesetzt werden soll. Repasi schlägt vor, die neue Rechtsform als EU-Richtlinie einzuführen. Eine Richtlinie müsste jedoch von jedem Mitgliedstaat einzeln in nationales Recht umgesetzt werden – mit Spielraum für 27 unterschiedliche Interpretationen. Das Ergebnis wäre im schlimmsten Fall wieder ein Flickenteppich statt einer einheitlichen Lösung. Aus Sicht der Startup-Verbände wäre das „grundlegend falsch“. Simon Schaefer, Co-Initiator von EU Inc, nennt die Idee sogar „wahnsinnig“, da sie genau jene Komplexität zurückbringt, die man eigentlich beseitigen wollte. Mit „27 Geschmacksrichtungen desselben Kopfschmerzes“ sei niemandem geholfen, wie EU-Inc-Juristin Iwona Biernat pointiert anmerkt.
Warum zögert die Politik? Ein Grund ist sicher, dass viele etablierte Interessengruppen ihre Pfründe gefährdet sehen. In den Konsultationen zum Repasi-Report tauchen unter den Einflussnehmern auffallend viele Banken, Notarkammern und Anwaltsverbände auf – Akteure, die vom status quo profitieren. Kein Wunder, denn Notare würden massiv Geschäft verlieren, wenn eine volldigitale EU-Gründung ohne Vorlesestunde Realität würde. Auch manche Länderregierungen mögen ungern Kompetenzen abgeben. Daher versucht man offenbar, den großen Wurf zu vermeiden und stattdessen eine light-Version zu basteln, die traditionelle Unternehmen nicht schreckt – aber Startups auch nicht wirklich hilft. Im schlimmsten Fall käme am Ende ein zahnloses Konstrukt heraus, das vielleicht familiengeführten Mittelständlern etwas bringt, aber die eigentlichen Wachstums-Startups außen vor lässt.
Noch ist jedoch nichts entschieden. Jetzt ist die Stunde der Wahrheit: Die EU-Kommission hat eine öffentliche Konsultation bis zum 30. September 2025 gestartet, in der Gründer und Investoren ihre Stimme pro 28. Regime erheben können. Parallel wird im Parlament weiter am Bericht gefeilt, bevor dann die Mitgliedstaaten im Rat zustimmen müssten. Die Startup-Allianz – von Allied for Startups über European Startup Network bis hin zum EU-Inc-Team – mobilisiert bereits die Szene, um laut und deutlich klarzumachen: Europa darf sich keine halben Sachen leisten. Oder in den Worten des offenen Briefs: „If the EU wants global champions, it must play to win.“ – Wenn Europa globale Champions will, muss es auch auf Sieg spielen. Sprich: Nur eine wirklich einheitliche Lösung, möglichst in Form einer Verordnung, wird dem Anspruch gerecht. Jetzt kommt es darauf an, dass die Politik diese Botschaft hört.
Meine Einschätzung als Startup-Berater und Anwalt
Als jemand, der Startups durch Finanzierungsrunden und internationale Deals begleitet, erlebe ich diese Herausforderungen ständig aus erster Hand. Die Geschichte mit den 59.000 € Notarkosten hat mich nicht überrascht – solche unverhältnismäßigen Aufwände sind mir in verschiedenen Größenordnungen schon untergekommen. Jeder zusätzlich benötigte Notartermin, jede lokale Sonderregelung, jede Wartezeit aufs Handelsregister bedeutet verlorenes Momentum für das Unternehmen. Aus juristischer Sicht ist mir natürlich bewusst, dass gründliche Prüfung und Rechtssicherheit wichtig sind. Doch viele der aktuellen Pflichten – wie das Vorlesen jedes Dokuments – sind reine Formsache ohne Mehrwert, quasi Rituale aus einer analogen Ära. In der Zeit, in der in Deutschland noch vorgelesen wird, haben Wettbewerber in den USA längst das Geld auf dem Konto und heuern neue Entwickler an.
Meiner Meinung nach ist EU Inc eine riesige Chance für Europa. Es geht nicht darum, die nationale Rechtsvielfalt komplett abzuschaffen – wohl aber darum, eine attraktive Alternative anzubieten, die modernen Startups gerecht wird. Die Societas Europaea (SE) existiert zwar schon als EU-Rechtsform, ist aber für junge Firmen unbrauchbar – 120.000 € Mindestkapital und nur für bereits internationale Konzerne gedacht. Wir brauchen etwas, das von null auf Wachstum ausgelegt ist. EU Inc könnte genau das liefern: eine schlanke, digitale Gründung, die in Tagen statt Monaten erledigt ist, und robuste Standards, die Investoren vertrauen. Als Anwalt begrüße ich das ausdrücklich – auch wenn es für meine Zunft oder die Notare weniger billable hours bedeutet 😅. Denn am Ende würden mehr Deals zustande kommen, mehr Startups den Sprung schaffen und insgesamt mehr Wert in Europa geschaffen. Lieber berate ich bei spannenden inhaltlichen Fragen eines wachsenden Geschäfts, als immer wieder die gleichen Formalitäten in zig Ländern durchzukauen.
Natürlich steckt der Teufel im Detail. Steuerrecht und Arbeitsrecht werden nicht über Nacht vereinheitlicht sein, und sicher muss man darauf achten, dass keine Schlupflöcher für Missbrauch entstehen. Aber diese Herausforderungen sind lösbar, wenn der politische Wille da ist. Entscheidend ist, dass wir jetzt den großen Wurf wagen anstatt wieder nur Flickwerk zu betreiben. EU Inc muss eindeutig und verlässlich sein – ein Gründer darf nicht rätseln müssen, ob seine EU-Inc-Gesellschaft in Land X wirklich problemlos anerkannt ist. Wenn dieses Vertrauen geschaffen wird, bin ich überzeugt, dass ein Großteil der nächsten Generation europäischer Startups diese Option ziehen wird.
Mein Fazit: Europa hat fantastische Gründer, Ideen und Talente – was uns oft fehlt, ist die Geschwindigkeit und Skalierbarkeit, die andere Märkte bieten. EU Inc kann genau dieses Problem adressieren. Es wäre ein Signal, dass Europa es ernst meint und Gründergeist nicht länger in Formularen erstickt. Ich persönlich werde die Initiative nach Kräften unterstützen und meinen Startup-Klienten empfehlen, ihre Bedürfnisse laut in Brüssel einzubringen. Jetzt gilt es, Mut zur Veränderung zu zeigen. Wenn wir es richtig anpacken, könnte das 28. Regime in ein paar Jahren zur neuen Normalität werden – und die Notarkosten à la 58.984 € endgültig ins Kuriositätenkabinett der Geschichte verbannen. 🚀