Schlaf? Überbewertet. Feierabend? Ein Fremdwort. So lautete vor gar nicht langer Zeit das unausgesprochene Motto der Startup-Szene. Gearbeitet wurde, bis der Server rauchte; Augenringe galten als Statussymbol und ein hoher Koffeinpegel als Leistungsnachweis. „Burnout“ war kein Schreckgespenst, sondern beinahe eine Ehrenmedaille.
Doch diese Ära neigt sich dem Ende zu: Die Zeit, in der man jede Nacht im Büro verbrachte und Pitchdecks mit Club-Mate durchackerte, ist im Jahr 2024 offiziell vorbei. Statt nächtlichem Dauereinsatz reden junge Gründer heute von Sabbaticals, Achtsamkeit und Work-Life-Balance. Da reibt sich so mancher altgedienter Workaholic verwundert die Augen – meinen die das ernst?
Abschied vom Dauer-Grind
Die glorreichen Hustle-Jahre waren nichts für Zartbesaitete. Mitternacht im Co-Working-Space – neben mir kämpfen drei Mitgründer gegen das Koffeinkoma, während auf unseren Bildschirmen Code und Folien flimmern. Pizzakartons und geleerte Club-Mate-Flaschen stehen Spalier wie Trophäen einer durchwachten Nacht. Wir wähnten uns als heldenhafte Marathonläufer im Business-Olymp; nach dem Motto: Wer schläft, verliert.
Wer damals um 20 Uhr schon nach Hause ging, erntete höhnische Nachfragen, ob er „halbtags“ arbeite. Hustle Culture glorifizierte den Dauer-Grind: 60-Stunden-Wochen, Büro-Couch statt Bett und ständig erreichbar sein – das alles galt als Auszeichnung. Tech-Gurus und Investor-„Löwen“ befeuerten den Trend, predigten eiserne Disziplin und verkündeten stolz, sie hätten im Büro unter dem Tisch genächtigt oder ein Jahr lang keinen Urlaub gemacht. „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin“, behauptete man halb im Scherz und ganz im Ernst – und beschleunigte damit nur den eigenen Verschleiß. So mancher fühlte sich irgendwann wie ein Zombie im Hoodie.
Sabbatical statt 24/7
Heute klingt das alles wie Folklore aus dem Silicon-Valley-Archiv. Generation Z hält Dauerüberarbeitung für so attraktiv wie ein Faxgerät im Home-Office. Work-Life-Balance ist kein Schimpfwort mehr, sondern das neue Statussymbol. Plötzlich gönnt man sich Auszeiten: Das Sabbatical – früher ein exotisches Privileg für ausgebrannte Manager – avanciert zum Must-have im Startup-Leben.
Neulich in einer Besprechung verkündete ein 28-jähriger CEO nach erfolgreicher Finanzierungsrunde, er werde sich nun erst mal zwei Monate Auszeit in Bali gönnen. Ich hätte beinahe meinen Kaffee verschüttet. Früher hätte so ein Satz ungläubiges Stirnrunzeln ausgelöst; heute nicken alle im Raum zustimmend und klopfen ihm anerkennend auf die Schulter.
Woran merkt man 2024, dass die Hustle Culture passé ist? Zum Beispiel an diesen Anzeichen:
- Meeting-Anfragen nach 18 Uhr gelten als Fauxpas – Stichwort: heiliger Feierabend.
- Startups werben mit 4-Tage-Woche und „Unlimited Vacation“ statt mit Gratis-Pizza und Überstunden-Bonus.
- Im Kühlschrank stehen Smoothies und Hafermilch, während der Energy-Drink im Lager verstaubt.
- Firmen schicken Mitarbeiter zum Achtsamkeits-Retreat, wo früher ein Hackathon-Wochenende angesetzt war.
Kurz: Die Auszeichnung ist nicht mehr die durchgearbeitete Nacht, sondern der pünktliche Feierabend. Umfragen zeigen, dass viele Berufstätige lieber auf Gehalt verzichten, als ihre Lebenszeit komplett dem Job zu opfern – eine Vorstellung, die vor wenigen Jahren als Ketzerei gegolten hätte. Selbst Investoren dämmert langsam, dass ausgeruhte Gründer bessere Entscheidungen treffen als übermüdete Zombies.
Selbst und ständig – und jetzt?
Als jemand, der seit 25 Jahren selbst und ständig arbeitet, habe ich anfangs nur den Kopf geschüttelt. Ich war es gewohnt, dass meine Arbeitswoche weder Sonntag noch Feiertag kannte. Wenn ein junges Team mich bat, einen Termin nicht nach 19 Uhr zu legen, fühlte ich mich zunächst auf den Arm genommen. Freizeit? Die kannte ich bisher höchstens vom Hörensagen.
Doch mein Verständnis von Arbeit wandelt sich – gezwungenermaßen und mit einer Prise Demut. Vor einiger Zeit erwischte ich mich dabei, wie ich um 18:30 Uhr den Laptop zuklappte und tatsächlich nach Hause ging, obwohl noch Unerledigtes wartete. Ein geradezu rebellisches Gefühl! Die Familie staunte, der Hund auch. Und siehe da: Am nächsten Morgen war mein Kopf klarer, und die To-do-Liste wirkte plötzlich halb so furchteinflößend.
In meiner Kanzlei erlebe ich den Kulturwandel täglich. Früher klingelte sonntags um 22 Uhr das Telefon, weil irgendwo immer etwas dringend schien. Heute schreiben mir Startup-Gründer spätabends E-Mails, in denen sie mir allen Ernstes einen schönen Feierabend wünschen und vorschlagen, am nächsten Tag weiterzumachen. Zuerst war ich perplex. Jetzt lächle ich – und lasse das Smartphone getrost liegen.
Es hat etwas Befreiendes, nach Jahrzehnten im 24/7-Modus auch mal einen Gang herunterzuschalten. Natürlich packt mich noch oft der Ehrgeiz, und ja, manchmal vermisse ich den Adrenalinkick der Nachtschichten. Aber wenn die jüngere Generation mir eines beigebracht hat, dann dies: Erfolg darf sich auch darin messen lassen, wie man lebt, nicht nur wie lange man arbeitet.
Inzwischen kann sogar ein alter Workaholic wie ich der viel beschworenen Work-Life-Balance etwas abgewinnen. Hustle Culture ade – dieser Wandel kommt ironischerweise nicht über Nacht, aber er kommt. Wer hätte gedacht, dass ausgeschlafene Gründer kreativer sind und dass Pausemachen kein Zeichen von Schwäche ist?
In diesem Sinne: Ruhe in Frieden, Hustle Culture – wir gehen dann mal pünktlich nach Hause.